Wer hat Schuld bei einem Auffahrunfall?

„Wer auffährt, hat immer Schuld“ – Diese Regel gibt es so nicht im Verkehrsrecht. Aber wie lautet sie wirklich? Das sagt die Rechtsprechung zur Schuldfrage bei einem Auffahrunfall.

1. Wie ist die Haftung bei Verkehrsunfällen geregelt?

Autounfälle passieren jeden Tag, leider sogar sehr viele. Viele der Zusammenstöße zählen unter die Kategorie „Auffahrunfall“. Der Grund hierfür liegt zwar häufig, aber nicht immer darin, dass ein Fahrer unachtsam oder waghalsig gefahren ist. Oft war es einfach „Pech“. Manche Autofahrer meinen zwar, ihr Fahrzeug besonders gut unter Kontrolle zu haben. Doch auch für sie gilt, dass es sich hier um Maschinen handelt, deren reine Masse, Geschwindigkeit und Anfälligkeit für technische Defekte per se gefährlich und mit menschlichen Fähigkeiten nur bedingt zu beherrschen ist. Fehler sind praktisch vorprogrammiert.

Der Gesetzgeber hingegen weiß um dieses Risiko. Wer ein Fahrzeug wirtschaftlich unterhält (Halter), der nimmt damit in Kauf, dass Menschen verletzt und Sachen beschädigt werden können (sog. Betriebsgefahr). Auf diesem Gedanken beruht sowohl die Pflicht für jeden Fahrzeughalter, eine Verkehrshaftpflichtversicherung abzuschließen als auch die Haftung bei allen Verkehrsunfällen. In den §§ 7 und 18 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) ist daher eine sog. Gefährdungshaftung festgelegt.

Für Halter bedeutet das: Sie haften grundsätzlich erst einmal für jeden Verkehrsunfall, unabhängig davon, ob sie gefahren sind, den Unfall verschuldet haben oder nicht. Der Halter kann der Haftung nur entgehen, wenn er oder der Fahrer seines Wagens den Zusammenstoß absolut nicht hätte verhindern können (höhere Gewalt, unabwendbares Ereignis). Das kann z.B. bei einem Erdrutsch oder einem Geisterfahrer greifen – in der Realität aber eher selten.

Stoßen also zwei Autos zusammen, so geht das Gesetz im Grundsatz davon aus, dass sich bei beiden die Betriebsgefahr realisiert hat – also dass beide „Pech“ hatten. Das führt dann bei der Aufteilung dazu, dass beide die Verantwortung und damit die gesamten Kosten für die Schäden an beiden Fahrzeugen zu jeweils 50% tragen.

Eine andere Quote sieht § 17 Abs. 1 StVG dann vor, wenn die Umstände oder die jeweiligen Verursachungsbeiträge dafür sprechen, dass einer der beiden Halter bzw. Fahrer mehr zahlen sollte als der andere. Neben der Schuldfrage ist hier auch die Betriebsgefahr der jeweiligen Fahrzeuge relevant. Stößt beispielsweise ein gefährlicherer LKW mit einem kleinen PKW zusammen, so haftet der Halter des Lastwagens grundsätzlich mit einem höheren Anteil.

Mit diesen Grundgedanken lässt sich auch erklären, warum so viele Autounfälle vor Gericht landen. Jede der beiden Parteien bzw. ihre Versicherungen haben ein erhebliches Interesse daran, zu beweisen, dass gerade für sie die 50%-Quote nicht gelten soll. Die am nächsten liegende Argumentation lautet dann: Der andere war schuld.

2. Ist immer der Auffahrende schuld?

Im Zivilprozess ist es normalerweise so, dass immer derjenige, der Schadensersatz vom anderen verlangt, dessen Schuld beweisen muss. Bei Auffahrunfällen würde das eigentlich heißen: Wer nun eine Beule im Heck hat, muss beweisen, dass der andere schuld am Auffahren war.

Bei einem Unfall ist die Beweisführung aber kein leichtes Unterfangen, da es sich eben (fast) immer um ein plötzliches Ereignis handelt, in dessen Folge beide Seiten unter Schock stehen. Selten werden zuallererst die Beweise gesichert, Zeugen befragen und Fotos gemacht – wahrscheinlicher und menschlicher sind eher emotionale Reaktionen wie wüste Beschuldigungen. Bis die Polizei kommt, ist es meist zu spät, sodass man vor Gericht nichts in der Hand hat.

Die allgemeine Lebenserfahrung zeigt aber, dass in der Regel der Hintermann den Auffahrunfall eher hätte verhindern können als der Vordermann, hätte er den nach § 4 Straßenverkehrsordnung (StVO) erforderlichen Abstand eingehalten, besser aufgepasst oder wäre er langsamer gefahren. Abstandsunterschreitungen zum „Vordermann“ zählen sogar zu den häufigsten Unfallursachen im Straßenverkehr. Um in solchen Fällen trotz der meist schlechten Beweislage zu einer fairen Lösung zu kommen, haben die Gerichte eine Vermutungsregel für die Beweislast bei Auffahrunfällen entwickelt.

Viele Autofahrer meinen, die Regel lautet so: „Wer auffährt, hat immer Schuld“. Damit macht man es sich aber zu leicht.

Vielmehr lautet die Regel nämlich: „Bei einem Auffahrunfall wird in tatsächlicher Hinsicht vermutet, dass der Auffahrende gegen eine Verkehrspflicht verstoßen hat und dass dieser Verstoß ursächlich für den Unfall war.“

Es wird also lediglich vermutet, dass der Auffahrende Schuld hat. Im Fachjuristischen werden solche Regeln „Beweis des ersten Anscheins“ oder kurz „Anscheinsbeweis“ genannt. Sie bedeuten, dass bei typischen Geschehensabläufen nach der Erfahrung auf bestimmte Ursachen geschlossen wird. Das ist schon etwas komplexer und direkt weniger verständlich.

3. Wer muss was vor Gericht beweisen?

Für den Vorausgefahrenen bedeutet diese Regel konkret: Er muss dem Richter lediglich glaubhaft vermitteln, dass es sich um einen „typischen“ Auffahrunfall gehandelt hat und eine andere denkbare Ursache für den Unfall so unrealistisch erscheint, dass sie außer Betracht bleiben kann. Dann darf er sich erstmal zurücklehnen. Nun ist der Auffahrende am Zug.

Dieser hat jetzt zwei Möglichkeiten, seinen „Kopf aus der Schlinge zu ziehen“:

  1. Entweder er behauptet, dass es gerade kein „typischer Geschehensablauf“ war – z.B., weil der Vorausfahrende kurz vorher die Fahrspur gewechselt hatte. Dann muss das Gericht klären, was wirklich passiert ist – also die Beteiligten befragen, Polizisten als Zeugen vernehmen oder ein Unfallgutachten eines Sachverständigen anfertigen lassen (das ist teuer!). Sollte das Gericht am Ende davon überzeugt sein, dass es tatsächlich kein typischer Fall war, ist der sog. Vermutungstatbestand widerlegt und daher die Vermutungsregel nicht mehr anwendbar.
  2. Steht allerdings fest, dass es wirklich ein typischer Ablauf war – z.B. beide fuhren auf gerader Strecke, bevor es zum Auffahrunfall kam – muss der Auffahrende die Vermutungsfolge widerlegen. Das ist schon schwieriger, denn jetzt muss er das Gericht aktiv von seiner Unschuld überzeugen. Dabei muss er beweisen, dass es in diesem speziellen Fall anders gewesen ist, als die Lebenserfahrung es vermutet – z.B., weil der Vordermann plötzlich abgebremst hat. Glaubt das Gericht ihm, bildet es entweder eine Quote oder spricht die Schuld dem Vorausfahrenden zu. Schafft der Auffahrende es nicht, die Vermutung an einer Stelle zu entkräften, muss er den gesamten Schaden tragen.

4. Ausnahmen von der Schuldvermutung

Die Beweisregel zu Auffahrunfällen findet ihre Grenze in atypischen Geschehensabläufen, bei denen keine generellen Rückschlüsse auf die Unfallursache getroffen werden können. Auch hier hat die Rechtsprechung gewisse Fallgruppen gebildet, die entweder von dem Anscheinsbeweis nicht erfasst sind oder regelmäßig zu einer Teilschuld führen.

Kettenunfälle

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm (Urt. v. 06.02.2014, Az. 6 U 101/13) urteilte, dass bei einem Kettenauffahrunfall mit mehr als zwei Unfallbeteiligten der Anscheinsbeweis nicht gilt. Denn die Situation einer sog. „Massenkarambolage“ ist meist komplizierter als bei einem Auffahrunfall mit zwei Fahrzeugen. Der jeweils vorausfahrende, in den Unfall verwickelte Fahrer könnte ebenso eine Mitschuld tragen – daher kann nicht immer pauschal der jeweils Auffahrende beweisbelastet sein. Kann die Mitschuld der Beteiligten nicht geklärt werden, tragen sie im Verhältnis zueinander aufgrund der jeweiligen Betriebsgefahr ihrer Autos 50% des Schadens.

Auffahrunfall nach Fahrbahnwechsel

Hat bei einem Auffahrunfall der Vorausfahrende kurz zuvor auf die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt – beispielsweise beim Einfädeln oder durch einen plötzlichen Spurwechsel, ohne zu blinken – gilt der Anscheinsbeweis nicht mehr zu Lasten des Auffahrenden. Umgekehrt wird zu Lasten des Vorausfahrenden vermutet, dass er beim Fahrbahnwechsel nicht vorsichtig genug gewesen ist, so das AG München (Urt. v. 01.10.2013, Az. 331 C 28375/12).

Vorheriges Abbiegen in eine Grundstückseinfahrt

Geschieht ein Unfall, nachdem der Vorausfahrende in eine Grundstückseinfahrt eingebogen ist, spricht bei einem Auffahrunfall sogar meist ein Anscheinsbeweis gegen ihn und nicht gegen den Hintermann, so das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 24.01.2014, Az. 13 S 168/13). Das liegt daran, dass der Abbiegende nach § 9 Abs. 5 StVO eine noch gesteigerte Sorgfaltspflicht hat und ganz besonders aufpassen muss, um den Verkehr nicht zu gefährden.

Aber, wie das vor Gericht so ist, es kommt auf den Einzelfall an. Das OLG Düsseldorf hat bei einer ähnlichen Konstellation doch wieder einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Auffahrenden angenommen und den Abbieger von jeder Schuld entbunden (Urteil vom 26.06.2015, Az. I 1 U 107/14).

Plötzliches Abbremsen

In den Fällen, in denen das vordere Auto ohne zwingenden Grund plötzlich abgebremst hat, hat auch dessen Fahrer gegen eine Verkehrsregel in § 4 StVO verstoßen. Der Anscheinsbeweis zu Lasten des Auffahrenden gilt zwar weiter, meist trägt dieser auch weiterhin die Hauptschuld. Doch im Ergebnis wird mit berücksichtigt, dass der Vordermann eine Mitschuld hatte und der Schaden wird meist zu etwa 70% und 30% aufgeteilt. Das hat z.B. das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Urt. v. 02.03.2006, Az. 3 U 220/05) entschieden.

Anders kann der Fall liegen, wenn das vordere Auto an einer Ampel zunächst losgefahren ist, dann aber plötzlich wieder eine Vollbremsung gemacht hat. In einem solchen Fall trägt dieser die Hauptschuld, weil es unüblich ist, an einer Ampel bei geringer Geschwindigkeit einen Sicherheitsabstand einzuhalten. So hat es das Amtsgericht München (Urt. v. 27.07.2001, Az. 345 C 10019/01) gesehen.

5. Fingierte Auffahrunfälle als Einkommensquelle?

Wird einem Verkehrsbeteiligten die Schuld an einem Auffahrunfall zugesprochen, kann einiges an Kosten zusammenkommen: Der Sachschaden am beschädigten Auto, Geld für einen Mietwagen oder eine Entschädigung für den Nutzungsausfall des Wagens fallen häufig an, daneben gibt es noch einige andere Schadenspositionen. Bei Auffahrunfällen entsteht häufig auch noch ein Schleudertrauma oder andere Verletzungen, was neben den reinen Behandlungskosten noch einen Anspruch auf Schmerzensgeld auslösen kann.

Gut, dass jeder Autofahrer eine Verkehrshaftpflichtversicherung haben muss, die für den Schaden im Regelfall aufkommt. Doch die Versicherungen sind sich der Tatsache durchaus bewusst, dass aufgrund der Rechtsprechung zu Auffahrunfällen, die grundsätzlich beim Auffahrenden die Schuld vermutet, auch der Versicherungsbetrug für manche eine willkommene Einkommensquelle ist. Frei nach dem Motto: „Wenn’s hinten knallt, gibt’s vorne Geld.“ Laut einer Statistik der Versicherungswirtschaft werden etwa zehn Prozent aller Verkehrsunfälle absichtlich zu diesem Zweck herbeigeführt. Solche Fälle sind mehrfach vor Gericht gelandet und unter dem Namen „Autobumser“ bekannt geworden. Wenn sich aber zwei Menschen verabreden, um sich das Geld von der Versicherung zu teilen, befreit die Einwilligung des vermeintlich Geschädigten die Versicherung von ihrer Zahlungspflicht. Kommen daher aufgrund der Unfallumstände gewisse verdächtige Indizien zusammen, wird die Versicherung erst einmal die Kostenübernahme ablehnen.

Ein wichtiges Indiz ist dabei die bei Auffahrunfällen klare Haftungsverteilung, bei der unstreitig die Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis greift. Wenn der Unfall auch noch beherrschbar war, niemand gefährdet wurde und das Geschehen an einem entlegenen Unfallort stattfand, vielleicht auch noch zur Nachtzeit und ohne neutrale Zeugen, werden Versicherer sehr hellhörig. Verlangt der Geschädigte einen hohen Schadensersatz für ein teures Auto, hat aber nicht vor, den Wagen zu reparieren, kann das den Verdacht erhärten.

Da allerdings einige vermeintlich „klare“ Indizien, die für einen betrügerischen Unfall sprechen könnten, auch bei normalen Situationen vorliegen, muss die Versicherung das Gericht in jedem Einzelfall von ihrer Ansicht überzeugen. Hier gilt kein Anscheinsbeweis zu ihren Gunsten. Eine klare Schuldverteilung allein wird nicht reichen, das Gericht zu überzeugen.

6. Fazit

  • Bei Unfällen haften im Grundsatz beide Fahrer zu jeweils 50%.
  • Anders ist dies, wenn ein Unfallbeteiligter die Hauptschuld am Unfall trägt.
  • Bei typischen Auffahrunfällen wird vermutet, dass der Auffahrende Schuld war. Dieser muss dann vor Gericht das Gegenteil beweisen.
  • Nicht jeder Auffahrunfall ist allerdings typisch – bei Kettenunfällen oder wenn der Vorausfahrende vorher die Fahrspur gewechselt hat, gilt die Vermutung nicht.
  • Bei typischen Auffahrunfällen vermuten Versicherer häufig einen Betrug.

7. Praxistipp

Wird man als Unschuldiger mit einem solchen Vorwurf der Versicherung konfrontiert, muss man sich dagegen vor Gericht verteidigen und die Lage richtig stellen. Man sollte erklären können, warum man zu dieser Zeit an diesem Ort war und was genau passiert ist. Außerdem ist es wichtig, gewissere weitere Indizien, die für eine Verabredung zum Unfall sprechen könnten, zu entkräften – z.B., dass sich die Beteiligten nicht vorher kannten, keine Vorstrafen hatten und eine ausgeglichene Vermögenslage haben. Auch im Nachgang des Unfalls ist es nicht ratsam, den Wagen schnell weiterzuverkaufen, sodass er für eine Überprüfung nicht mehr zur Verfügung steht – das wirkt verdächtig.